Das Wort lag auf der Zunge, doch es wollte nicht über die Lippen rutschen. Manche halten das Vergessen für eine Gnade, die unbewusste Fähigkeit, Erinnerungen zu löschen, aus dem Gedächtnis zu streichen, zu verdrängen, wie auch immer.
Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern untersuchen dieses Phänomen, es werden Theorien gesucht, formuliert, postuliert und ausprobiert.
Passend dazu das Bonmot von Schopenhauer: «Unser Gedächtnis gleicht einem Siebe, dessen Löcher, anfangs klein, wenig durchfallen lassen, jedoch immer größer werden und endlich so groß, daß das Hineingeworfene fast alles durchfällt.»
Der Antagonist ist übrigens Erinnern; Erinnern an Bilder, Episoden, Geschichten und eben an Worte und Wörter.
Stadt am Niger
Buckten
Vor Sissach setzte der Regen ein, ein typischer Nieselregen, der die Landschaft in Grautöne erstarren liess. Noch etwas mehr als drei Stunden würde die Wanderung dauern, entlang des Homburgerbaches in Richtung Hauenstein, vorbei an den kleinen Dörfern des Läufelfingertales, eine abgeschiedene, ländliche Welt zwischen Strasse und Eisenbahn. Die Eisenbahnstrecke war damals vormehr als 150 Jahren ein Meilenstein für das Land, verband sie doch die Region Basel mit dem Rest des Landes; später wurde im Nachbartal eine zweite, doppelspurige Strecke eröffnet, die effizienter und leistungsfähiger ist, weswegen die Gegend an Bedeutung verlor und sogar die Einstellung der Eisenbahnstrecke drohte, was aber von der Bevölkerung vehement abgelehnt wurde. So tuckert alle Stunde ein Triebwagen das Tal rauf und runter, verschwindet im Tunnel Richtung Olten, vermittelt doch ein bisschen das Gefühl, noch Anschluss an die Welt zu besitzen.
Langsam kroch die Feuchtigkeit durch die Kleider, der Weg über die Hügel, vorbei an der Burgruine Homburg würde zu ungemütlich werden, die Strasse vorbei an Buckten ist schneller, weniger hübsch, lärmiger, was aber bei diesem Aprilwetter doch egal war.
Letzte Etappe
Es war die letzte Etappe, die letzte Runde, oder wie er es nannte, die letzten 20 cm. Er tönte gut am Telefon, wieder optimistischer, kein Vergleich wie vor 2 Wochen, als er deprimiert im Rollstuhl sass und mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Der Krebs war wieder zurück gekehrt, und das Geschwulst drückte auf die Oberschenkelnerven, was zu den Lähmungserscheinungen geführt hatte.
Auch nach der Entfernung des Lymphoms machten ihm die Ärzte wenig Hoffnung, es gäbe momentan keine Behandlung mehr. Umso glücklicher muss er gewesen sein, als sie ihm dennoch eine weitere Chemotherapie anboten, die er auch dankend annahm.
Er müsse halt mit dem Krebs leben, der würde nicht mehr weg gehen. Auch die Physiotherapeutin machte ihm Hoffnung mit dem Bild, sich wieder ohne Rollstuhl fort bewegen zu können.
Aber eben, die letzte Etappe war angebrochen.
Zofingen
Irgendwie ist Zofingen und die Gegend typisch schweizerisch; da ist das Städtchen, eine Gründung der Habsburger, doch jeweils treu dem jeweiligen Lehnherrn ergeben, kämpfte brav mit den Habsburgern gegen die Eidgenossen, später mit den Bernern gegen die Franzosen, und wollte nicht zum neuen Kanton Aargau, sondern stellte die Petition, doch bei den gnädigen Herren zu Bern bleiben zu können; aber es half nichts, das Städtchen kam zum neuen Kanton, etwas abseits der grossen Verkehrs- und Geistesströmen.
Gleich im Osten beginnt die Kantonsgrenze und früher eben auch die Konfessionsgrenze; während die braven Zofinger dem reformierten Glauben anhängen musste, waren in 10 Kilometer Entfernung die Katholiken zu Hause, was oftmals dazu führte, dass die Zofinger zu deren Feiern gingen, da dort nicht so eine Sittenstrenge vorhanden war wie bei ihnen zu Hause.
Das Stadtbild ist sehr gut erhalten; der Schanzgraben, Mauern und Wehrtürme wurden Mitte des 19 Jh. abgerissen, es begann ein zaghaftes Wachstum zur Flussebene runter.
Das untere Wiggertal ist geprägt von ehemaligen Bauerndörfer, die heute zu Streusiedlungen mit den typischen Einfamilienhausquartieren mutiert sind; Kleingewerbe und Logistikunternehmen frassen einen grossen Teil der Ackerfläche weg, irgendwie ein typische Flickenteppich aus Wohn,- Gewerbe und Landwirtschaftsfläche. Auch typisch ist, wie verlassen sie beim Durchwandern wirken, als ob es sich um potemkinsche Dörfer handeln würde.
Oben auf den Hügeln, auf dem Adelbodenchopf, dem Santenberg, dem Fuchshubel und wie sie alle heissen, beim Wandern durch die Wälder sieht man manchmal die Hügellandschaft der Wigger, im Hintergrund die Berge des Berner Oberlandes.
Aarburg
Aarburg ist eine Enttäuschung; von weiten sieht die Kirche und die Festung auf dem Felsen spannend aus. Es wird gehofft, das rund um diese Gebäude ein mittelalterliches Städtchen sich schmiegt, enge Gässchen mit Türmen und Toren. Nichts allem von dem da; es gibt 2, 3 Häuserzeilen, ein kleiner Platz mit der Postfiliale, Brunnen und Strassenrestaurant. Oben auf dem Felsen war die Kirche geschlossen, die Festung ist nicht zugänglich, da sie als Vollzugsanstalt für Jugendliche dient. Es war auch schwierig, sich in der Nachbarschaft von Olten und Zofingen zu behaupten, die einfach zu nahe sind und mehr zu bieten hatten. So blieb dem Städtchen über Jahrhunderte nur die Festung als Sitz der Berner Landvögte, bis es nach der Napeolonischen Zeit zum neuen Kanton Aargau kam.
Der Rest der Halbtageswanderung führt nicht unten der Wigger entlang, sondern durch die Wälder des Naturreservates Säliflue, vorbei an blühenden und aus treibenden Bäumen.
Entropie von Socken
Ein müder Blick in die Schublade offenbarte das ganze Desaster: es gab ein heilloses Durcheinander der Socken, weswegen die Gefahr akkut war, dass demnächst kein Paar mehr vorhanden sein würde, sondern nur noch einsame, verzweifelte Einzelschicksale, obwohl doch vorbestimmt ist, dass nur als Paar die Socke eine Zukunft aufweist.
Beim Sortieren, dass irgendwie nie enden wollte, da die Dinger einander doch sehr gleichen und aus Erziehung heraus das entsprechende Pendant gesucht werden wollte, schweiften die Gedanken zu Sysiphos, der wenigstens nur einen Stein den Berg hinauf rollen musste, mit der Vorstellung, als Strafe für verbale Ironie unendlich viele Socken ordnen zu müssen; ein ähnliches Phänomen ist der Kabelsalat der Elektrogeräte, der zwar entzwirnt wird, aber lustigerweise in ähnlicher Form nach wenigen Wochen wieder auftaucht.
Nun, bevor die Gedanken über Entropie und das Schicksal der Socken noch mehr sich verirrten, wurden die einsamen, Paar resistenten unter ihnen weg geworfen. Auch eine Lösung😊
Olten
Wer weiss was über Olten? Eigentlich wird dieser Ort mit der Eisenbahn assoziiert, «Eisenbahnknotenpunkt», «Eisenbahnerstadt». Ja, stimmt alles, mit Beginn der Industrialisierung und dem Ausbau der Bahnen gelangte die Stadt zu ihrer Berühmtheit als Schnittpunkt der Nord-Süd Achse Deutschland Italien und der Ost-West Achse Bodensee Genfersee. Mit der Bahn wuchs die Stadt und die sozialen Unterschiede, was sich vor über 100 Jahren in einem Landesstreik entlud.
Später erfuhr man, dass vor gut 50 Jahren die System kritischen Schriftsteller eine Gruppe Olten ins Leben riefen, um der damalig konservativen Stimmung im Land den Kampf anzusagen. Alles, was Rang und Namen hatte wie Dürrenmatt, Frisch, Bichsel, O. F. Walter, Federspiel u.a. schloss sich an.
Ansonsten würde noch ein Verwandter dort leben, den man seit Jahren nicht mehr gesehen hat.
Olten, wahrscheinlich schon vor 2000 Jahren besiedelt, gelangte erst im Mittelalter ans Tageslicht der Geschichte, als das Städtchen Untertan des Bistums Basel wurde. Nach ein paar verheerenden Bränden verlor Basel das Interesse und verkauft den Ort an Solothurn. Die Altstadt ist klein, aus ein paar Gassen bestehend, eingezwängt zwischen Fluss und Pfarrkirche, aber auf alle Fälle eine Bereicherung.
Vor Stadt liegt der wichtige Juraübergang Untere Hauenstein, auf Grund seiner niedrigen Höhe von knapp 700 m.ü.M. schon seit langem als Handelsweg genutzt. Auch heute ist der Übergang zwischen Baselbiet und Mittelland immer noch viel befahren, obwohl im Nachbartal die Autobahn den Jura unterquert.
Indemini
Am Ende der Schweiz liegt das Dorf Indemini; geografisch zu Italien gehörend, mit einer Strasse über den Passo di Neggia mit dem Rest der Kantons verbunden, leben nach Schätzungen ein Handvoll Einwohner auf knapp 1000 m.ü.M, in einem steilen, verwinkelten Dörfchen, mit einem kleinen Dorfladen, einer Postautohaltestelle, einem Restaurant, einem Gemeindezentrum und der Pfarrkirche mit dem Friedhof. Der Arzt kommt einen Nachmittag die Woche auf Visite, quält sich die Serpentinen reiche Strasse über den Pass hoch, um ein die paar Senioren zu begutachten. Deutsche und Deutschweizer leben hier oben, abgeschieden und ruhig, mit Blick auf Italien.
Aus strategischen Gründen eroberten die Eidgenossen im 15. Jh. das Dörfchen und gaben es nicht mehr her. Erst seit gut 100 Jahren existiert die Strasse, vorher überquerten die Menschen den Passo di Santö Anna, um in das Dorf zu gelangen.
Lodrino
Dieser Teil des Kantons heisst Riviera, geprägt vom kanalisierten Fluss, der Eisenbahn, der Autobahn und der Industrieregion um Bellinzona. Entlang des Dammes, der Anfangs 20. Jh. abgeschlossen wurde, wandert es sich bequem den Auenwälder entlang, nur gestört vom Rauschen der Autobahn und Eisenbahn.
Vor Lodrino tauchen im Wald Eisenplastiken auf, deren Herkunft nicht eruierbar waren. So bewacht ein grimmiger Ritter die Strasse, oder ein rotes Paar warten bei einem Tisch vielleicht auf die Bedienung.
Lodrino auf der linke Flussseite gelegen ist nicht nur für River Rafting Freunde spannend; es gibt einen hübsche Kirche und die Grotti, in den Felsen geschlagene Häuser, die als Voratkammer dienten, da die Höhlen im Innern kühl sind. Eine grosse Erwerbsquelle bildet der Granitsteinbruch, dessen Abbrüche gut sichtbar sind.
Muttenz
Unzählige Male fuhr man schon an diesem Ort vorbei und konnte sich nicht vorstellen, dass es ein Ort ist, der eigentlich ziemlich hübsch ist. Aus dem Eisenbahnfenster sieht man nur die rauchenden Schornsteine der chemischen Industrie, die unzähligen Geleise des Rangierbahnhofes, die drei spurige Autobahn, auf der der Transitverkehr nach Süden rollt. Unten am Fluss, versteckt durch den Naherholungswald liegt noch der grosse Flusshafen mit seinen Erdöltanks, den Frachtschiffen, den Zubringerstrassen für Lastwagen und Güterwaggons; eine hässliche Industriegegend.
Und dennoch, am Rande des Wartenbergs stehen die Häuser des Dorfes, hübsch renoviert, um die Wehrkirche St. Arbogast gruppiert. Oben auf dem Hügel liegen die Überreste der vorderen Wartenberg, gebaut vor gut 1000 Jahren um die Handelswege entlang des Rheins zu überwachen. Allerdings war sie bereits 300 Jahre später am zerfallen, da sie nicht mehr bewohnt wurde.
Die Wanderung beginnt im St. Alban Quartier der Stadt Basel; in diesem Quartier im Osten der Stadt ist eine Teil der Stadtmauer und ein Stadttor noch erhalten; dank des St. Alban Baches waren im Mittelalter Gewerbe Betriebe wie Papiermühle oder Gerbereien angesiedelt. Vor den Toren erstreckt sich dann dieses Industriegebiet, das der Region Reichtum und Geld brachte, deren Anblick von Hügeln wie Wartenberg aber doch irgendwie beängstigend ist.